Flechtheim-Preis für Demokratie und Menschenrechte
Die Humanismus Stiftung Berlin und der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg vergeben alle zwei Jahren den Flechtheim-Preis für Demokratie und Menschenrechte, der der Förderung von Aufklärung, Toleranz und Selbstbestimmung und der Einhaltung der Menschenrechte in der Gesellschaft dienen soll. Er ist mit 10.000 Euro dotiert und wird jeweils einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, einer Projekt-Gruppe oder Institution verliehen, die sich auf wissenschaftlichem, politischem, weltanschaulich-philosophischem oder künstlerischem Gebiet oder durch praktisches soziales Engagement für die Verwirklichung humanistischer Werte und Ziele eingesetzt hat.
Verleihung des Ossip-K.-Flechtheim-Preises 2015
In einem Festakt am 11. Oktober in der Nelson Mandela Schule vergaben unsere Stiftung und der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg den diesjährigen Humanismus-Preis an Mohamed Ibrahim und Shemi Shabat für ihre Workshops zum Nahostkonflikt, die sie als palästinensisch-israelisches Trainer-Team für Schülerinnen und Schüler und Multiplikatoren durchführen.
Der Staatssekretär für Bildung Mark Rackles sprach Grußworte, die stellvertretende Superintendentin des Kirchenkreises Berlin-Mitte Silke Radosh-Hinder hielt die Laudatio. Sie führte u.a. aus: „Wenn ich mir alles auf dem Papier ausrechne, muss ich dahin kommen, dass die Chancen für einen gewaltsamen Untergang der Menschheit bei 85 Prozent liegen.
Ich lebe und kämpfe aber für die verbleibenden 15 Prozent, so beschrieb Ossip K. Flechtheim mit einem Zitat des Nuklearphysikers Leo Szilard seine Haltung in Bezug auf die Zukunft. Für die Preisträger trifft diese Haltung ebenfalls zu, egal wie aussichtslos eine Situation erscheint; sie würden immer auf die 15 Prozent setzen und dafür kämpfen. Das gilt insbesondere für ihre pädagogische Tätigkeit – es gibt keine hoffnungslose Situation, es gibt nur Gelegenheiten etwas zu verbessern…
Sie erhalten diesen Preis für ihr außerordentliches Engagement seit nunmehr sieben Jahren an unzähligen Schulen, Einrichtungen, Jugendgruppen. Sie erhalten den Preis für die Arbeit mit der Zielgruppe, über die viele Menschen viel Besorgtes zu sagen haben aber nur selten zusammenarbeiten. Sie sind genau da, wo es auf ihre Arbeit ankommt. Sie sind diejenigen, die vor diesen Jugendlichen stehen und mit ihnen am Thema Nahostkonflikt arbeiten… In dieser Arbeit trägt aber etwas anderes noch weiter: die menschlichen Begegnungen und die Erfahrungen, dass im Laufe von nur drei Tagen Veränderungen möglich sind. Die Beobachtung, dass junge Menschen unüberwindbare Denkpositionen in Frage stellen, dass sie bereit sind, eine neue Perspektive in ihre mitunter sehr eingeengte Sicht aufzunehmen, dass sie am Ende schlicht zugeben, mit mehr Fragen als Antworten aus dem Workshop zu gehen – das ist manchmal geradezu überwältigend.“
2002
Dr. Konrad Riggenmann (Volksschullehrer) für sein Engagement, das Schulkreuz in bayerischen Klassenzimmern abzuhängen.
2004
Prof. Peter Grottian für seine langjährige Beteiligung in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen und für seine damit verbundenen sozialen Initiativen (u.a. Projekt-Tutorien für Studierende, Schwarzfahrtaktionen gegen die Streichung der Sozialtarife).
2006
1. Seyran Ates für ihr Engagement als Anwältin und Menschenrechtsaktivistin für türkische Einwanderinnen
2. vier Schüler_innen der Fritz-Karsen-Schule in Neukölln für ihren aktiven Einsatz, die Abschiebung einer Mitschülerin nach Bosnien zu verhindern.
2009
Dr. med. Michael de Ridder für sein Engagement für Patienten aus sozialen Randgruppen, sein Aufgreifen brisanter Themen der Gesundheitspolitik und der Problematik von würdigem Leben und Sterben.
2011
Stiftung ZURÜCKGEBEN, weil ihre Arbeit beispielhaft zeigt, wie man mit der Vergangenheit verantwortungsvoll umgehen kann und sich die Frage von Schuld und Verantwortung positiv und produktiv in die Zukunft wenden lässt.
2013
Gedenkort – T4.eu, da das Projekt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet und so einen ausgezeichneten Beitrag zur gegenwärtigen Debatte über Inklusion leistet.
Der Namensgeber Ossip-K. Flechtheim
In Erinnerung und Anerkennung an den Politologen und Zukunftsforscher Prof. Ossip K. Flechtheim als Theoretiker eines modernen Humanismus und langjähriges Mitglied des Humanistischen Verbandes trägt der Preis seinen Namen.
Flechtheim (1909-1998) stammte aus einer jüdischen Familie, war aber religiös nicht interessiert. Nach dem Abitur in Düsseldorf studierte er Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten In Freiburg, Paris, Heidelberg, Berlin und Köln. Wegen seiner Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe Neu Beginnen und seiner jüdischen Abstammung wurde er 1933 von den Nazis aus dem Öffentlichen Dienst entlassen. Über Belgien ging er später nach Genf, wo er an der dortigen Universität seine Studien abschloss. Flechtheim emigrierte 1939 in die USA und lehrte hier an verschiedenen Hochschulen. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs trat er in die US-amerikanische Armee ein und kehrte als Lieutenant colonel für einige Monate als Bürochef beim Amt des US-Hauptanklägers für Kriegsverbrechen in Berlin nach Deutschland zurück.
Von 1952 lehrte Flechtheim als ordentlicher Professor an der Deutschen Hochschule für Politik. Nach Integration der Einrichtung in die Freie Universität Berlin 1959 erhielt er seine C4-Professour für Politikwissenschaft am dortigen Otto-Suhr-Institut, die er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1974 bekleidete.
Bereits 1943 in den USA prägte Flechtheim den Begriff der „Futurologie“ als systematische und kritische Auseinandersetzung um Zukunftsfragen. 1970 veröffentlichte er sein Werk „Futurologie: Der Kampf um die Zukunft“, in dem er sowohl die realsozialistischen Staaten als auch den Kapitalismus kritisierte. In einer emanzipatorischen Gegenbewegung sah er dagegen die Entfaltung, Internationalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft.
Politisch engagierte sich Flechtheim in der SPD (bis 1962) und ab 1981 bei den Grünen. Er war Gründungsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitglied des PEN-Clubs, im Konzil der Friedensforscher und im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung.
Am Vorabend seines 89. Geburtstages starb Flechtheim in Berlin. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Dahlem im Feld 2 neben denen seiner politischen Freunde Helmut Gollwitzer und Rudi Dutschke.
Der freie Denker Ossip K. Flechtheim
Flechtheim war ein freier Denker im wahrsten Sinne des Wortes. Daher war ihm als bekennender Freidenker, der „Religion als Menschenwerk“ sah, auch jeder „materialistische Dogmatismus“ fremd und wenn er vor der „Gefahr der Dogmen“ warnte, dann meinte er auch die Dogmen in den Reihen der Freidenker. Über Freidenkertum nachzudenken, hieß für Flechtheim immer, sich auch scharf von jedem Religionshass abzugrenzen.
Charles Darwin, genau 100 Jahre älter als Flechtheim, war für ihn ein bewundernswerter freier Denker und Humanist, aber zugleich auch ein Kind seines Jahrhunderts. „Der Humanist ist heute skeptischer und bescheidener als sein viktorianischer Vorfahre; er hat ein offenes Ohr für die Kritik, die etwa von christlicher Seite gegen die Hybris bestimmter Formen des Aufklärungsoptimismus und der Wissenschaftsgläubigkeit geltend gemacht worden ist.“ Aber Flechtheim fügte sofort hinzu: „ Die dogmatisch-metaphysischen Antworten und Aussagen der traditionellen Kirchen erscheinen ihm [dem Humanismus] heute noch weniger glaubwürdig und zeitgemäß als früher.“
Davon zu unterscheiden sei jedoch das Bedürfnis des Menschen nach Religion. Flechtheim nahm Marx erst, der eben nicht geschrieben hatte, dass Religion Opium für das Volk, sondern dass Religion das Opium des Volkes sei. Nicht nur ein kleiner Unterschied. Den zu erkennen, hieß freilich weder für Marx noch für Flechtheim, die Kritik der Religion für überflüssig zu erklären.
Auch Flechtheim verwies für die Menschen des 20. Jahrhunderts (und er hätte es sicher auch für die Menschen des 21. Jahrhunderts getan) auf deren „gesellschaftlichen Bedingungen und tiefenpsychologischen Motivationen“, die sie „für sich selber auf einen Himmel hoffen und ihrem Gegner die Hölle androhen.“
Aber dann fallen in dem kurzen Text Flechtheims, mit dem er über die Religion heute nachdachte, die Stichworte, die auch sein übriges Denken immer wieder bestimmen sollten: „Auschwitz“ und „Hiroshima“. Daher war für Flechtheim klar, dass in einem noch immer nicht zu Ende gekommenen Zeitalter, in dem die Menschheit sich selber vernichten kann, „jede optimistisch-theistische Konzeption zu einem Stein des Anstoßes“ wird.
Noch mehr ging Flechtheim jedoch mit kirchlichen Ansprüchen ins Gericht, die dem einzelnen Menschen das selbständige Denken verbieten wollen. Ausdrücklich betonte er, dass ihn – und er traf damit gleich zwei „Großkirchen“ ins Mark – der „Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes“ an den „Stalin-Kult“ des Bolschewismus erinnere.
Auch in diesem Zusammenhang mochte er es sich nicht verkneifen, auf die Frankfurter Leitsätze der CDU nach 1945 zu verweisen, wo es heißt: „Da das christliche Menschenbild in wesentlichen Zügen das gleiche ist, wie es viele Nichtchristen als das einer westlichen Humanität vorschwebt, werden auch sie mit uns zusammengehen können. … Allen Nichtchristen werden sie Duldsamkeit und Achtung entgegenbringen, und sie dürfen daher eine gleiche Haltung auch von ihnen erwarten.“
Das Zitat ist auch ein postumer Kommentar zu einer aktuellen Berliner Diskussion, in der von kirchlicher Seite nichtchristlichen Humanisten die Fähigkeit abgesprochen wird, zu einer Wertediskussion einen Beitrag leisten zu können. Auch in diesem Zusammenhang lohnt es immer wieder, die Texte von Flechtheim nachzulesen.
(*) Siegfried Heimann, Der freie Denker Ossip K. Flechtheim, in: Siegfried Heimann (Hg.): Ossip K. Flechtheim – 100 Jahre, Berlin 2009, ISBN 978-3-924041-29-8.
Das Buch kann beim Humanistischen Verband Deutschlands, Landesverband Berlin-Brandenburg, erworben werden.